KJP LMU

Neuronale Mechanismen und hormonelle Einflussvariablen der Emotionserkennung bei Jugendlichen mit Anorexia Nervosa (Magersucht)

Gefördert durch das Förderprogramm für Forschung und Lehre (FöFoLe)


Hintergrund
Anorexia nervosa (Magersucht) ist eine Erkrankung, die sich durch deutliches Untergewicht, der Angst vor einer Gewichtszunahme, einer Störung der Wahrnehmung des eigenen Körpers, sowie den übertriebenen Einfluss des Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung oder ein Leugnen des Schweregrades des gegenwärtigen geringen Körpergewichts kennzeichnet. Die Erkrankung manifestiert sich meist im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter und betrifft vorwiegend Mädchen und Frauen. Die Prognose der Magersucht ist ernst zu nehmen: zum einen ist es die psychische Erkrankung mit der höchsten Mortalitätsrate, zum anderen ist die Langzeitprognose relativ schlecht: etwa 20 % der Fälle verlaufen chronisch. Zusätzlich zu der Kernsymptomatik geht die Magersucht häufig auch mit Schwierigkeiten im sozialen und emotionalen Bereich einher, denen eine wesentliche Rolle sowohl bei der Entstehung als auch bei der Aufrechterhaltung der Erkrankung zugeschrieben wird. Es ist somit von großer Bedeutung zu verstehen, wie Patientinnen mit Magersucht emotionale und soziale Informationen wahrnehmen und verarbeiten, sowie potenzielle Defizite zu identifizieren und genau zu charakterisieren.

Die Fähigkeit, Emotionen in den Gesichtern anderer Menschen korrekt zu erkennen, ist unabdingbar für erfolgreiche zwischenmenschliche Kommunikation und Interaktion. Defizite bzw. Verzerrungen in der Emotionserkennung stehen in Zusammenhang mit Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen, tragen zur Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen bei und haben einen negativen Einfluss auf das Outcome der Behandlung psychischer Erkrankungen. Verschiedene psychische Erkrankungen wurden im Hinblick auf Defizite in der Fähigkeit, Emotionen in Gesichtern korrekt zu erkennen, untersucht, darunter auch Magersucht. Beeinträchtigungen in der Emotionserkennung könnten maßgeblich zu den vielfältigen Schwierigkeiten im sozialen und emotionalen Bereich, von denen Patientinnen mit Magersucht betroffen sind, beitragen. Die meisten der Studien, die sich mit Emotionserkennung bei Patientinnen mit Magersucht beschäftigt haben, haben erwachsene Stichproben untersucht. Die Untersuchung jugendlicher Patientinnen ist jedoch aus mehreren Gründen besonders relevant: zum einen ist die Inzidenz der Erkrankung im Jugendalter besonders hoch, zum anderen sind die Emotionserkennungsfähigkeiten im Jugendalter noch nicht vollständig ausgereift. Somit könnten Defizite im Erkennen von Emotionen in Gesichtern oder Veränderungen in den der Verarbeitung emotionaler Gesichtsausdrücke zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen, wenn sie bereits im Jugendalter vorhanden wären, mit der normalen Entwicklung der Emotionserkennungsfähigkeiten interferieren, was sich besonders negativ auf die Patientinnen auswirken könnte.

Ziele
Ziel der Studie ist es deshalb zu untersuchen, wie Jugendliche mit Magersucht emotionale Gesichtsausdrücke erkennen, wahrnehmen und verarbeiten. Zum einen sollen die neurophysiologischen Korrelate der Verarbeitung emotionaler Gesichtsausdrücke bei Jugendlichen mit Magersucht im Vergleich zu gesunden Jugendlichen mit Hilfe ereigniskorrelierter Potenziale (EKPs) untersucht werden. Zum anderen soll ein Vergleich mit einer Gruppe von Mädchen mit Depression gezogen werden. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass Magersucht nicht die einzige psychische Erkrankung ist, die mit Beeinträchtigungen im Erkennen emotionaler Gesichtsausdrücke in Zusammenhang gebracht wurde, sondern auch bei Patienten mit depressiven Erkrankungen Defizite in der Fähigkeit, Emotionen in Gesichtern korrekt zu erkennen, gefunden wurden.

Durchführung
Insgesamt wurden 89 Mädchen im Alter von 12-18 Jahren im Rahmen der Studie untersucht. Die Stichprobe magersüchtiger Patientinnen umfasste 26 Mädchen, die Stichprobe depressiver Patientinnen 28 Mädchen und als gesunde Kontrollgruppe nahmen 37 Mädchen an der Studie teil. Es wurden ein Elektroenzephalogramm (EEG) während vier verschiedenen Aufgaben aufgezeichnet, bei denen die Teilnehmerinnen Photographien von Gesichtern mit emotionalen Gesichtsausdrücken (Freude, Traurigkeit, Angst, Wut, Neutral) sahen und diese entweder Betrachten oder anhand verschiedener Kriterien kategorisieren mussten. Eine dieser Aufgaben erfasst die Emotionserkennungsfähigkeiten auf der Verhaltensebene. Aus dem EEG wurden vier EKP-Komponenten, die vier aufeinanderfolgenden Phasen der Verarbeitung emotionaler Gesichter abbilden, extrahiert und analysiert.

Ergebnisse
Zusammenfassend zeigte sich, dass Jugendliche mit Magersucht sich von gesunden Mädchen in den neurophysiologischen Korrelaten der Wahrnehmung und Verarbeitung emotionaler Gesichtsausdrücke unterschieden. Die Unterschiede deuten darauf hin, dass für Jugendliche mit Magersucht die Gesichter anderer Menschen weniger intrinsisch salient waren und weniger selektive Aufmerksamkeit auf sich zogen; also als weniger relevant oder weniger "wichtig" wahrgenommen wurden. Über die Ursachen dieser Unterschiede lässt sich allerdings nur spekulieren: möglicherweise kommen sie dadurch zustande, dass Patientinnen mit Magersucht gedanklich so eingeengt auf krankheitsspezifische Gedanken über Körper, Gewicht und Essen sind, dass sozial relevante Stimuli wie die Gesichter anderer Menschen für sie weniger relevant sind; oder dadurch, dass für Patientinnen mit Magersucht krankheitsrelevante Merkmale einer Person salienter sind als sozial relevante Merkmale (also deren Gesichtsausdruck). Die veränderten neurophysiologischen Korrelate der Verarbeitung emotionaler Gesichter zeichneten sich jedoch nicht als Emotionserkennungsdefizite auf der Verhaltensebene ab sondern im Gegenteil: behavioral zeigten Patientinnen mit Magersucht eine geringfügig bessere Emotionserkennungsleistung als gesunde Mädchen (und als Mädchen mit Depression). Es ist allerdings denkbar, dass die Unterschiede in den neurophysiologischen Korrelaten der emotionalen Gesichterverarbeitung längerfristig betrachtet bei der Entstehung von Defiziten eine Rolle spielen: dass soziale Informationen in Form von Gesichtern anderer Menschen für Patientinnen mit Magersucht weniger intrinsische Salienz aufweisen könnte dazu beitragen, dass sich die Patientinnen zunehmend sozial isolieren und dies könnte wiederum die Entstehung von Emotionserkennungsdefiziten begünstigen. Dieser Zusammenhang ist jedoch rein hypothetisch und sollte, ebenso wie die Ursachen der neurophysiologischen Veränderungen, zukünftig anhand von prospektiven Studien näher beleuchtet werden.

Ausblick
Bislang wurden noch nicht alle Daten aus der Studie ausgewertet und publiziert. Eine Publikation zu Schwierigkeiten im Umgang mit den eigenen Emotionen - die mit Hilfe von Fragebögen erhoben wurden - ist aktuell in Arbeit. Die Analyse weiterer Daten steht noch aus. Die Webseite wird aktualisiert, sobald weitere Publikationen aus der Studie vorliegen.
Des Weiteren wurde auf Basis der vorliegenden Studie eine neue Studie beantragt und bewilligt: Neurophysiologie der emotionalen Verarbeitung sozialer Stimuli bei Jugendlichen mit Anorexia nervosa - die ANEMONE-Studie. Diese Studie untersucht die neurophysiologischen Korrelate der Verarbeitung von Gesichtern im Vergleich zu Körpern bei Jugendlichen mit Magersucht im Vergleich zu gesunden Jugendlichen. Dies könnte eine Erklärung für das o.g. Ergebnis liefern, das für Jugendliche mit Magersucht Gesichter anderer Menschen weniger salient zu sein scheinen. Des Weiteren sollen im Zuge der ANEMONE-Studie die o.g. Ergebnisse, besonders hinsichtlich der Unterschiede in der neurophysiologischen Verarbeitung emotionaler Gesichter zwischen Mädchen mir Magersucht und gesunden Mädchen, repliziert werden.

Publikationen - Zeitschriftenbeiträge
Sfärlea, A., Greimel, E., Platt, B., Bartling, J., Schulte-Körne, G., & Dieler, A.C. (2016). Alterations in neural processing of emotional faces in adolescent anorexia nervosa patients-an event-related potential study. Biological Psychology, 119, 141-155. https://doi.org/10.1016/j.biopsycho.2016.06.006

Sfärlea, A., Greimel, E., Platt, B., Dieler, A.C., & Schulte-Körne, G. (2018). Recognition of emotional facial expressions in adolescents with anorexia nervosa and adolescents with major depression. Psychiatry Research, 262, 586-594. https://doi.org/10.1016/j.psychres.2017.09.048

Kongressbeiträge - Vorträge
Sfärlea, A., Greimel, E., Platt, B., Bartling, J., Dieler, A.C., Schulte-Körne, G. (2016). Die Erkennung und Verarbeitung emotionaler Gesichtsausdrücke bei Jugendlichen mit Anorexia nervosa - Veränderungen auf neurophysiologischer Ebene. 5. Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen, Essen.

Sfärlea, A., Greimel, E., Platt, B., Bartling, J., Schulte-Körne, G., Dieler, A.C. (2017). Die Erkennung und Verarbeitung emotionaler Gesichtsausdrücke bei Jugendlichen mit Anorexia nervosa - Veränderungen auf neurophysiologischer Ebene. XXXV. DGKJP Kongress, Ulm.

Kongressbeiträge - Poster
Sfärlea, A., Dieler, A.C., & Schulte-Körne, G. (2015). Emotionserkennung bei Jugendlichen mit Anorexia Nervosa - Verhaltenseffekte und neurophysiologische Korrelate. XXXIV. DGKJP Kongress, München.

Sfärlea, A., Greimel, E., Platt, B., Bartling, J., Schulte-Körne, G., Dieler, A.C. (2017). Neurophysiologische Korrelate der Verarbeitung emotionaler Gesichtsausdrücke bei Jugendlichen mit Anorexia nervosa. 43. Tagung Psychologie und Gehirn, Trier.

Sfärlea, A., Greimel, E., Platt, B., Dieler, A.C., Schulte-Körne, G. (2018). Die Erkennung emotionaler Gesichtsausdrücke bei Jugendlichen mit Anorexia nervosa und Jugendlichen mit Major Depression. 6. Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen, München.

Kontakt
Bei Fragen zu dieser Studie oder Interesse an den Publikationen können Sie sich gerne an uns wenden:

Anca Sfärlea
Email: Anca.Sfaerlea@med.uni-muenchen.de
Telefon: 089 4400 55917




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