Binge-Eating-Störung - "Essstörung mit Essattacken"
Der aus dem Amerikanischen stammende Begriff "to binge" kann übersetzt werden mit "schlingen", "in sich hineinsaugen" oder "ein Fressgelage abhalten". Eine offizielle deutsche übersetzung existiert derzeit noch nicht. Das wesentliche Kennzeichen der Binge-Eating-Störung ist das wiederholte Auftreten von Heißhungerattacken bzw. "Essanfällen" ohne regelmäßig angewandte Maßnahmen zur Gewichtsreduktion. Demzufolge leiden die Betroffenen häufig auch an übergewicht (bei Erwachsenen BMI = 25 - 30) oder Adipositas (bei Erwachsenen BMI > 30, bei Kindern BMI über der 97. Altersperzentile), so dass nicht selten auch aus medizinischen Gründen eine Behandlung notwendig ist.
- Woran lässt sich eine Binge-Eating-Störung erkennen?
- Welche körperlichen Folgen und Komplikationen kann die Binge-Eating-Störung nach sich ziehen?
- Häufigkeit und Verbreitung der Binge-Eating-Störung (Epidemiologie)
- Was sind mögliche Ursachen und Hintergründe der Erkrankung?
- Wie lässt sich eine Binge-Eating-Störung wirksam behandeln?
- Ist eine medikamentöse Therapie sinnvoll?
Woran sich eine Binge-Eating-Störung erkennen läßt:
Hauptsymptome und Folgen
Wesentliches Kennzeichen ist ein Essverhalten, das durch häufige Kontrollverluste beim Essen (Heißhungeranfälle) geprägt ist. Im Unterschied zur Bulimia nervosa fehlen regelmäßige, einer Gewichtszunahme direkt gegensteuernde Maßnahmen.
- Ein Essanfall zeichnet sich dadurch aus, dass in einem relativ kurzem Zeitraum eine Nahrungsmenge gegessen wird, die wesentlich über dem liegt, was die meisten Menschen in diesem Zeitraum essen würden und
- dass es während des Essens zu einem Kontrollverlust kommt; dies bedeutet, dass der oder die Betroffene nicht mehr aufhören kann zu essen und nicht mehr steuern kann, was und wieviel er/sie davon verschlingt.
- Im Vergleich zur Bulimie ist die Häufigkeit von Essanfällen etwas geringer, und die Fressanfälle dauern in der Regel etwas länger, haben ein weniger klaren Anfang und ein nicht ganz so klar definiertes Ende (was bei der Bulimie meist mit dem anschließenden Erbrechen gegeben ist). Dennoch sind die einzelnen Episoden abgrenzbar.
Die Binge-Eating-Störung gilt als Untergruppe der unspezifischen Essstörungen, die als eigenständiges Krankheitsbild in den internationalen Klassifikationen noch nicht besteht und einer weiteren wissenschaftlichen Klärung bedarf. Die nachfolgenden Kriterien entsprechen den Forschungskriterien des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen, DSM-IV, American Psychiatric Association (APA) 1994:
- Die episodischen Essanfälle mit Kontrollverlust treten an mindestens zwei Tagen pro Woche über einen Mindestzeitraum von 6 Monaten auf.
- Obwohl der oder die Betroffene keinen wirklichen Hunger verspürt, isst er/sie - meist wesentlich schneller als normal - bis zu einem unangenehmen Völlegefühl.
- Es besteht ein deutlicher Leidensdruck mit Deprimiertheit, Ekel- oder Schuldgefühl und Selbstvorwürfen nach einem Essanfall; das Essen findet meist allein statt, aus Verlegenheit über die große Nahrungsmenge.
- Auf die Essattacken folgen keine gegenregulatorischen Maßnahmen wie Erbrechen oder Abführmittelmissbrauch, so dass eine Gewichtszunahme in der Regel unausweichlich ist. Daher sind Menschen mit dieser Essstörung meist übergewichtig oder adipös.
Menschen mit Binge-Eating-Störung haben zu einem hohen Anteil zusätzliche psychische Erkrankungen, speziell Depressionen, Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen (insbesondere vom emotional-instabilen "Borderline"-Typus und vermeidende Persönlichkeitsstörung, Yanowski 1993, Mitchell 1995).
Welche körperlichen Folgen und Komplikationen kann die Binge-Eating-Störung nach sich ziehen?
Die körperlichen Schäden und Langzeitfolgen ergeben sich zumeist aufgrund des bestehenden, mehr oder weniger stark ausgeprägten übergewichts bzw. der Adipositas, d. h. es drohen sämtliche Varianten der ernährungsbedingten "modernen Zivilisationskrankheiten": metabolisches Syndrom, Fettstoffwechselerkrankungen, Diabetes mellitus Typ II, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen-Darm-Erkrankungen, Erkrankungen des Stütz- und Halteapparates etc.
Häufigkeit und Verbreitung der Binge-Eating-Störung (Epidemiologie):
Zahlen und Fakten
Im Vergleich zu Anorexie und Bulimie liegt der Anteil des männlichen Geschlechts bei Binge-Eating-Störung deutlich höher, er wird auf 1/3 der Betroffenen geschätzt. Auch die Altersverteilung ist breiter gestreut als bei den anderen genannten Essstörungen, Angehörige aller Altersgruppen können an der Binge-Eating-Störung leiden. Das Ersterkrankungsalter ist meist höher als bei Anorexie/Bulimie; im Vergleich zur "einfachen Adipositas" liegt der Erkrankungsbeginn jedoch früher (Yanowski 1993). Nach Angaben des Bundesgesundheitsamtes von 1994 ist in Deutschland annähernd jeder fünfte von Adipositas betroffen, und die Zahl der übergewichtigen und adipösen Menschen nimmt in den westlichen Industrienationen weiterhin stetig zu. Es sollte unterschieden werden zwischen "einfacher Adipositas" und Binge-Eating-Störung, wobei logischer Weise der Anteil der an Binge-Eating Erkrankten in der Gruppe der übergewichtigen deutlich über dem bei Normalgewichtigen liegt: Eine in den USA durchgeführte Untersuchung ergab eine Häufigkeit von Binge-Eating-Verhalten von ca. 2 % in der Normalbevölkerung, während bei adipösen Menschen schon 4 - 9 % und in Therapiegruppen, die eine Gewichtsreduktion zum Ziel hatten, etwa 30 % der Teilnehmer von einer zusätzlichen Binge-Eating-Störung betroffen waren (Fairburn 1993).
Wie eine Binge-Eating-Störung entsteht:
Mögliche Ursachen und Hintergründe
Auf die Risikofaktoren für Essstörungen allgemein (Schlankheitsideal, Diätverhalten) und Essanfälle im besonderen (Teufelskreis Fasten - Essanfall - erneutes Fasten) wurde bereits in den Kapiteln zur Anorexie und Bulimie hingewiesen (siehe dort). Ein Großteil der Patienten mit Binge-Eating-Störung hat jedoch zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Diätversuche oder Nahrungsrestriktion praktiziert (Spurrell 1997, Marcus 1993).
- Dem gegenüber kommt ausgeprägten Selbstwertkonflikten und eine stärkere Neigung zu Depressionen häufig auch bei Entstehung und Aufrechterhaltung der Binge-Eating-Störung eine entscheidene Rolle zu.
Spezifische Konflikte oder eine spezifische Persönlichkeit, die einer Binge-Eating-Störung zugrunde liegt, konnten bislang nicht identifiziert werden. Viele übergewichtige Menschen berichten jedoch, dass sie mehr oder zuviel essen, wenn sie Kummer haben oder einsam sind.
- Essen kann somit als Ersatzbefriedigung für andere, unerfüllte Bedürfnisse dienen. Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass Menschen unter starker emotionaler Belastung bisweilen nicht dazu in der Lage sind, Hunger von anderen "Unlustgefühlen" oder Zuständen des Unbehagens zu unterscheiden.
- Essattacken können eine Funktionalität im Sinne einer Spannungsreduktion erlangen, wenn Kummer, Sorgen und andere negative Affekte durch Fressanfälle zeitweilig unterdrückt und Stresssituationen besser bewältigt werden.
- Auch für die Binge-Eating-Störung gilt, dass das Risiko bei einem negativen, feindselig-kontrollierenden oder vernachlässigenden Familienklima erhöht ist.
Wie sich eine Binge-Eating-Störung (Esssucht) wirksam behandeln lässt:
Therapeutisches Vorgehen und Ziele
Die Therapie der Binge-Eating-Störung kann grob in zwei Stufen eingeteilt werden: Der erste Teil der Behandlung fokussiert auf die Reduktion von Essattacken. Im Anschluss daran erfolgt Ausbau und Stabilisierung der erreichten Erfolge.
ähnlich der Bulimie sind Essattacken Folge zweier Bedingungen: Wiederholtes gezügeltes Essverhalten sowie psychische Konflikte. Das Planen regelmäßiger Mahlzeiten sowie eine Nahrungsaufnahme, die sich am Hunger- und Sättigungsgefühl orientiert und nicht mehr mit psychischen Konflikten zusammenhängt, führen in der ersten Behandlungsphase zur Reduktion von Heisshungeranfällen. Eine Gewichtsreduktion nach Normalisierung der Nahrungsaufnahme erfolgt automatisch. Der zweite Behandlungsabschnitt zielt auf die Herstellung einer akzeptierenden Haltung zum eigenen Körper und beinhaltet darüber hinaus das intensive Bearbeiten psychischer Konflikte. Weiterhin werden mit den Patienten Bewältigungsstrategien zum Umgang mit Risikosituationen erarbeitet. Regelmäßige körperliche Aktivitäten (u. a. Walking, Gymnastik) unterstützen die Behandlung der Binge-Eating-Störung in allen Phasen. Sie ermöglichen einen akzeptierenden Umgang mit dem eigenen Körper, dämmen die Gesundheitsrisiken des übergewichts ein und tragen zum positiven Aufbau der Stimmung bei.
Die Behandlung der Binge-Eating-Störung erfolgt oft ambulant bzw. teilstationär (Tagesklinik). Manchmal ist allerdings eine stationäre Behandlung erforderlich. Studien belegen, dass Patienten mit einer Binge-Eating-Störung besonders von einer gruppentherapeutischen Behandlung profitieren. Auch bei jüngeren Personen mit einer Binge-Eating-Störung ist es angezeigt, Familienmitglieder in den therapeutischen Prozess einzubeziehen.
Behandlungskonzept der Klinik
Ist eine medikamentöse Therapie sinnvoll?
Bei Essstörungen sollte eine medikamentöse Behandlung nur in Kombination mit einer psychotherapeutischen Behandlung erfolgen. Bei der Anorexie wird bei anhaltender Depressivität, ausgeprägter Zwangs- und Angststörung die Behandlung mit einem Antidepressivum (Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, SSRI) empfohlen. Zur Osteoporoseprophylaxe wird eine ausreichende Calciumzufuhr sowie Vitamin-D angeraten.
Die Behandlung mit SSRI hat sich bei der Bulimie als wirksam erwiesen und zwar unabhängig davon, ob eine Depression vorliegt oder nicht. Zu berücksichtigen ist, dass die therapeutische Dosis bei der Bulimie um ein Drei- bis Vierfaches höher ist als bei der depressiven Störung. Mittels trizyklischer Antidepressiva oder SSRI lässt sich bei der Binge-Eating-Störung ein mäßiger Effekt erreichen.
Ein Teil der Patienten profitiert von einer Behandlung mit Neuroleptika; von dem Einsatz von Benzodiazepinen wird eher abgeraten.
Behandlungskonzept der Klinik