Neuroanatomische Befunde
W. v. Suchodoletz
Umschriebene Sprachentwicklungsstörungen sind durch isolierte Störungen des Spracherwerbs bei ansonsten intakten kognitiven Funktionen gekennzeichnet. Im Vortrag wird der Frage nachgegangen, ob der umschriebenen kognitiven Störung eine genauso umschriebene strukturelle und/oder funktionelle Störung des Gehirns zugrunde liegt. Untersuchungen des Gehirns sprachentwicklungsgestörter Kindern wie auch Untersuchungen der Sprachentwicklung von Kindern mit hirnlokalen Schädigungen können zur Klärung dieser Frage beitragen.
Strukturelle Hirnveränderungen lassen sich mit Hilfe der Computertomographie, der Magnetresonanztomographie und mit neuroanatomischen Untersuchungen nachweisen. Hinweise auf funktionelle Störungen sind durch eine neurologische Untersuchung und durch bildgebende funktionelle Verfahren zu erhalten (Single-Photon-Emissionstomographie, funktionelle Magnetresonanztomographie, Positronen-Emissionstomographie). Bislang liegen mit differenzierteren Untersuchungsmethoden erst wenige Ergebnisse bei sprachentwicklungsgestörten Kindern vor, da insbesondere die funktionellen bildgebenden Verfahren im Kindesalter nur eingeschränkt einsetzbar sind. Insgesamt zeigen die bisherigen Befunde, dass bei sprachentwicklungsgestörten Kindern ausgeprägte Hirnveränderungen nicht zu beobachten sind. Diskrete strukturelle und funktionelle Auffälligkeiten wurden im Bereich des unteren Stirn- und oberen Schläfenhirns beider Hemisphären gefunden. Die betroffenen Hirnstrukturen sind beim Erwachsenen für die Sprachverarbeitung und die Verarbeitung auditiver Reize verantwortlich.
Kinder mit hirnlokalen Schädigungen - z. B. infolge eines Verschlusses eines Hirngefäßes oder eines offenen Schädelhirntraumas - zeigten in Längsschnittuntersuchung eine allgemeine Verzögerung der intellektuellen Entwicklung jedoch keine umschriebene spezifische Sprachentwicklungsstörung. Im späteren Lebensalter waren bei den Kindern - auch bei einer Zerstörung der Sprachzentren - nur relativ geringe sprachliche Auffälligkeiten nachweisbar. Selbst bei einer operativen Entfernung der Hirnrinde der gesamten linken Hemisphäre, wie sie in Einzelfällen bei schweren fokalen Epilepsien erforderlich werden, waren die Folgen im Sprachbereich nicht ausgeprägter als Defizite im Bereich anderer kognitiver Leistungen. Langzeituntersuchung von Kindern mit hirnlokalen Läsionen zeigen somit, dass eine umschriebene Sprachentwicklungsstörung nicht auf eine frühe einseitige Schädigung der Sprachzentren zurückzuführen ist. Bei allen Kindern, bei denen eine bleibende Sprachstörung nach Hirnerkrankungen im frühen Kindesalter beobachtet wurde, waren beide Hemisphären von der Erkrankung betroffen.
Zusammenfassend sprechen bisherige empirische Untersuchungen dafür, dass spezifische Sprachentwicklungsstörungen auf Störungen im Bereich beider Hemisphären zurückzuführen sind. Dabei handelt es sich nicht um grobe strukturelle Veränderungen, sondern eher um Auffälligkeiten in der Feinstruktur, die sich auf die effiziente Ausbildung neuronaler Netze auswirken.