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Interdisziplinären Fachtagung - Lese- und Rechtschreibstörung – Neue Erkenntnisse und Herausforderungen zur Diagnostik und Förderung

Das Interesse an der diesjährigen LRS Fachtagung war wieder groß, es kamen über 300 Teilnehmer um sich die Vorträge anzuhören und mitzudiskutieren. Vertreter der Presse waren auch vor Ort, wie aus untenstehenden Medienberichten hervorgeht

Eröffnet wurde die Tagung von der Vorstandsvorsitzenden des BVL, Tanja Scherle, sowie vom bayrischen Staatsminister für Unterricht und Kultus, Prof. Dr. Michael Piazolo.
Die Referentinnen und Referenten Dr. Kristina Moll, Dr. Sini Huemer und Prof. Dr. Schulte-Körne, berichteten über den aktuellen Forschungsstand zur Lese-Rechtschreibstörung, zu Computer- und App-basierten Förderprogrammen sowie zu Komorbiditäten. Ministerialrat Roland Zerpies vom Bayrischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus sprach über die schulische Umsetzung der Regelungen zur Lese-Rechtschreibstörung und zu Maßnahmen der individuellen Förderung, des Nachteilsausgleichs und des Notenschutzes.
In einer von Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne geleiteten Podiumsdiskussion diskutierten die bildungspolitischen Sprecher von zwei Parteien sowie eine Vertretung des Jugendamtes über das Thema „Chancengleichheit für Kinder mit Lese- und Rechtschreibstörung im Schulalltag“. Zum Abschluss stellte die Dyslexie- und Dyskalkulietherapeutin, Christiane Wander das Kooperationsprojekt zwischen Jugendamt und Schulamt des Landkreises Eichstätt „Früh erkennen – präventiv fördern“ vor, das Kindern mit Lese-, Rechtschreib-, oder auch anderen Schwierigkeiten zeitnah und unbürokratisch die notwendige Förderung ermöglicht.

Im ersten Vortrag des Tages berichtete Dr. Kristina Moll über „aktuelle Forschungsergebnisse zur LRS“. Aktuelle Studien weisen darauf hin, dass es wichtig ist, zwischen Problemen in der Worterkennung, im Rechtschreiben, in der Leseflüssigkeit und im Leseverständnis zu differenzieren. Viele Betroffene haben spezifische Probleme in einem der Bereiche, während die anderen unbeeinträchtigt sind. Zudem scheinen den verschiedenen Symptomen auch unterschiedliche Ursachen zugrunde zu liegen. Demnach sind Probleme in der Worterkennung auf Schwierigkeiten in der Lautverarbeitung (v.a. in der phonologischen Bewusstheit) zurückzuführen, die häufig zu Schwierigkeiten beim Abspeichern von Wörtern im Gedächtnis führen. Dies spiegelt sich dann in einer schlechten Rechtschreibleistung wider. Schwierigkeiten in der Leseflüssigkeit sind hingegen nicht durch Schwierigkeiten beim Abspeichern von Wörtern verursacht, sondern durch Probleme, auf die abgespeicherten Wörter schnell zuzugreifen, was eine deutliche Reduktion der Lesegeschwindigkeit zur Folge hat. Probleme im Verstehen von Sätzen und Texten können natürlich Folge mangelnder Worterkennung sein. Es gibt jedoch auch zahlreiche Betroffene, die genau und flüssig Lesen, aber dennoch Probleme haben das Gelesene zu verstehen und Schlussfolgerungen zu ziehen. Diese Schwierigkeiten resultieren aus Schwierigkeiten mit der gesprochenen Sprache, v.a. mit dem Wortschatz und grammatikalischen Fähigkeiten. Die vorgestellten Befunde haben wesentliche Implikationen für die Praxis: In der Diagnostik müssen alle Schriftsprachkomponenten (Lesegenauigkeit, Lesegeschwindigkeit, Leseverständnis und Rechtschreibung) erhoben werden, um zwischen den verschiedenen Symptomen zu differenzieren. Die Therapie sollte dann spezifisch und gemäß den zugrundeliegenden Problemen erfolgen.

In ihrem Beitrag „Neue Möglichkeiten in der LRS-Förderung“ gab Dr. Sini Huemer zuerst eine Zusammenfassung über die Studienlage zur Wirksamkeit von computer- und onlinebasierten Förderprogrammen. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass diese Programme zu Verbesserungen der Lese-Rechtschreibfähigkeiten führen können. Die langfristigen Effekte wurden jedoch oft nicht untersucht. Dr. Sini Huemer gab einen Überblick über die vorhandenen Programme, die geeignet für Lese- und Rechtschreibförderung sind. Diese Programme werden genauer in einem Bericht „Evidenzbasierte LRS-Förderung“, der in diesem Jahr erscheinen wird, beschrieben. Zusätzlich wurde im Vortrag die Entwicklung des onlinebasierten Lese-Förderprogramms „Meister Cody – Namagi“ vorgestellt. Das Ziel des Programmes ist die Verbesserung der Vorläuferfertigkeiten des Lesens und Rechtschreibens, sowie eine symptomorientierte Leseförderung. Eine Evaluationsstudie zur Wirksamkeit des Programmes konnte erste positive Ergebnisse zeigen.

Im Vortrag von Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne lag der Schwerpunkt auf dem wichtigen Thema „psychischen Belastungen bei schulischen Entwicklungsstörungen: Herausforderungen für die Diagnostik und Förderung“. Bei Kindern mit LRS treten überzufällig häufig psychische Begleiterscheinungen, so genannte Komorbiditäten auf. Sehr häufig ist hier die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS). Es wird davon ausgegangen, dass bis zu 20% der Kinder mit einer LRS auch eine ADHS haben. Eine ebenfalls häufige Komorbidität ist die Depression, für die Kinder mit einer LRS ein etwa doppelt so hohes Erkrankungsrisiko haben. Dieses ist bei Kindern, die neben der LRS noch eine Rechenstörung haben, besonders hoch. Es wird angenommen, dass das erhöhte Vorkommen der Depression zum Teil durch LRS begründet wird, zum Teil aber auch schon davor die Disposition zur Depression vorhanden ist. Ebenfalls erhöht bei Kindern mit LRS ist das Risiko, eine Angststörung zu entwickeln. Die erhöhten Häufigkeiten von Suizidalität und Suizidgedanken müssen außerdem sehr ernst genommen werden. Kinder mit LRS haben zudem aufgrund der häufigen Misserfolgserlebnisse oft einen geringeren Selbstwert. Sie sind oft weniger gut in der Schule integriert und werden häufiger Opfer, aber auch Täter, von Mobbing. Aufgrund der vorgestellten möglichen psychischen Begleiterscheinungen der LRS ist bei der Diagnostik eine ganzheitliche Betrachtung sehr wichtig. Diese wird auch in der S3-Leitlinie zur LRS gefordert. Das bloße Durchführen von Leistungstests ist nicht ausreichend. Auch die LRS-Förderung sollte ganzheitlich durchgeführt werden und psychotherapeutische Elemente enthalten. Für die Eltern ist eine umfassende Beratung und Psychoedukation wichtig, die sie nicht mit dem Thema und möglicherweise auftauchenden Schuldgefühlen alleine lässt.

Ministerialrat Roland Zerpies vom Bayrischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus berichtete über die „Umsetzung der Regelungen zur Lese-Rechtschreibstörung und zu Maßnahmen der individuellen Förderung, des Nachteilsausgleichs und des Notenschutzes“. Er gab einen Überblick über verschiedene mögliche Maßnahmen und stellte den Ablauf dar, der stattfinden muss, bis dass die Maßnehmen greifen. Mehrmals betonte er dabei, dass es auch schon vor Gewährung eines Nachteilsausgleichs viele Möglichkeiten der individuellen Unterstützung gebe, die das Lehrpersonal einem Kind im Schulalltag gewähren könne. Der Nachteilsausgleich beziehe sich lediglich auf die Prüfungssituation. Es sei wichtig, diese beiden Maßnahmen zu unterscheiden.

In einer von Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne geleiteten Podiumsdiskussion diskutierten eine Vertretung des Jugendamtes sowie die bildungspolitischen Sprecher von zwei Parteien (die anderen vier eingeladenen und im Bayerischen Landtag vertretenen Fraktionen hatten keinen Vertreter geschickt) über das Thema „Chancengleichheit für Kinder mit Lese- und Rechtschreibstörung im Schulalltag“. Anwesend waren Matthias Fischbach von der FDP, Markus Bayerbach von der AFD sowie Astrid Siegmann vom Stadtjugendamt München. Matthias Fischbach betonte, die FDP sei dafür, die Bildungsressourcen zu erhöhen, z.B. in Form von Bildungsgutscheinen, und das Bewusstsein für das Thema LRS in der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte zu stärken. Bei Personalmangel sollte es erleichtert werden, in Schulen auch Quereinsteiger zuzulassen, um das System personell besser auszustatten. Markus Bayerbach (AFD) sagte er wolle dafür sorgen, dass das Thema Dyskalkulie in den bildungspolitischen Ausschuss gebracht werde. Außerdem finde er es wichtig, mehr Förderlehrer mit mehr Zeit für die einzelnen Kinder einzustellen. Er schlug vor, Untersuchungen von für den Schriftspracherwerb relevanten Fähigkeiten mit in die Kinderarztuntersuchungen zu integrieren. Astrid Siegmann (Jugendamt) war der Meinung, dass die Möglichkeiten, die die Schulen vor Ort hätten, nicht ausgeschöpft würden. Dies liege allerdings nicht am fehlenden Engagement der Lehrkräfte. Außerdem müsse die Förderung auch vorschulisch systematisiert werden. Sie betonte, dass sie bei der Diskussion nur die Münchner Perspektive darstellen könne, da die Bedingungen bei jedem Jugendamt anders und die Versorgung nicht vergleichbar seien. Auf die Forderung nach einer Entbürokratisierung und Beschleunigung der Antragstellung sagte sie, dass die Kriterien hierfür festgelegt seien. Termine beim Kinder- und Jugendpsychiater könnten über die Terminservicestelle der kassenärztlichen Vereinigung innerhalb von vier Wochen vereinbart werden. Sie würde sich aber bemühen, dass die Anträge auch online verfügbar gemacht würden, die Wartezeit von Seiten des Jugendamtes verringert und Eltern, die die Anträge nicht alleine ausfüllen könnten, mehr Unterstützung erhalten würden. Eine ihrer Forderungen an die Politik sei eine gewisse Anzahl von LRS-Stunden für die Schulen. Die Schulen müssten sich außerdem mehr für die Lerntherapeuten öffnen, so dass niedrigschwelligere Hilfen möglich seien. Generell sei es wichtig, eine eigene Finanzierung für LRS-Therapie zu finden. Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne betonte, dass diese Diskussion in der Politik interministeriell geführt werden müsse und die gesetzlichen Krankenkassen dabei einbezogen werden sollten.

Zum Abschluss stellte die Dyslexie- und Dyskalkulietherapeutin Christiane Wander das „Kooperationsprojekt zwischen Jugendamt und Schulamt des Landkreises Eichstätt Früh erkennen – präventiv fördern“ vor. Das Projekt ist ein sehr vielversprechendes Modell, wie Kinder mit Lese-, Rechtschreib-, oder auch anderen Schwierigkeiten zeitnah und ohne den langen, umständlichen Weg über ein §35a-Gutachten Förderung erhalten können. Nach allen Vorträgen gab es viele Fragen und intensive Diskussionen, z.B. zum Vergleich der Wirksamkeit von Papier-Bleistift- zu computer- oder app-basierten Verfahren, zu möglichen Unterstützungsmaßnahmen und Ideen, wie bessere Bedingungen für betroffene Kinder geschaffen werden könnten.

Die diesjährige Fachtagung LRS wurde wieder vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V. in Zusammenarbeit mit der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie veranstaltet.

Süddeutsche Zeitung

Bayerischer Rundfung, LRS Beitrag startet bei Minute 17:16“

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